Kräutersammeln ist im Trend. Wildkräuter und Heilpflanzen frisch aus der Natur gepflückt – das kommt gut an.

Grundsätzlich ist mir dieser Trend sympathisch. Wer Kräuter sammelt, achtet wieder mehr auf die Natur in der Umgebung und auf die Jahreszeiten.

Gesundheitsförderlich wäre allerdings der Grundsatz, die Pflanzen zuerst gut kennenzulernen…..und dann erst zu essen.

Diese „Lebensregel“ wird meinem Eindruck nach oft nicht beachtet.

Manchmal fehlt sogar ein klares Bewusstsein dafür, dass es auch Giftpflanzen gibt. Die Natur ist in manchen Köpfen einfach nur gut und sanft und heilsam zu uns.

Solche Idealisierungen finden sich leider oft auch in den Medien.

Ein Beispiel dafür liefert „Via“ (Nr. 5 / 2015), die Zeitschrift der SBB, in einem Text mit Aussagen der Heilkräuterfrau L. L. aus dem Maderanertal, die ein gerütteltes Mass an Fehlinformationen, Simplifizierungen und Übertreibungen enthalten.

Zitat:

„Falsch
machen könne man beim
 Kräutersammeln übrigens 
kaum etwas. Es gibt zwar einige giftige Pflanzen, wie beispielsweise die Wolfsmilch 
oder der Fingerhut, doch die 
erkenne man an einer ganz einfachen Regel: Blumen mit gleichständigen Blättern sind meistens ungiftig, die mit versetzten Blättern am Stängel sind giftig.“

Diese Aussage tönt simpel und klar und kommt damit zweifellos gut an bei einem Publikum ohne Fachkenntnisse. Einfache Regeln sind attraktiv, weil sie von der Anstrengung entbinden, sich wirklich kundig zu machen.

Die Aussage im Zitat ist falsch und fahrlässig:

– „Blumen mit gleichständigen Blättern sind meistens ungiftig,…“

Zwar ist es richtig, dass die meisten Blumen mit gegenständigen Blättern ungiftig sind. Aber „meistens“ ist im Zusammenhang mit Giftpflanzen ein ziemlich problematischer Begriff. Auf „meistens“ würde ich mich bezüglich Giftpflanzen nicht verlassen. Beispiele für Giftpflanzen mit gegenständigen Blättern sind Schwalbenwurz (Vincetoxicum hirundinaria), Gnadenkraut (Gratiola officinalis), Poleiminze (Mentha pulegium).

Die Heilkräuterfrau L. L. verwendet zudem nicht den botanisch eindeutigen Begriff „gegenständig“, sondern den vageren, unüblichen Begriff „gleichständig“. Als „gleichständig“ könnten botanische Laien auch die Giftpflanze Tollkirsche (Atropa belladonna) interpretieren, weil dort jeweils ein grosses und ein kleines Blatt beieinander stehen. Auch die Giftpflanzen Einbeere (Paris quadrifolia), Maiglöckchen (Convallaria majalis) und Herbstzeitlose (Colchicum autumnale) könnten Laien durchaus als „gleichständig“ auffassen.

– „….die mit versetzten Blättern am Stängel sind giftig.“

Diese Aussage ist vollkommen unsinnig. Ja, es gibt Pflanzen mit wechselständigen Blättern (so der botanisch korrekte Begriff), die giftig sind. Aber die meisten Pflanzen mit wechselständigen Plättern sind ungiftig – auch viele wechselständige Heilpflanzen wie zum Beispiel Schafgarbe, Kümmel und Bibernell.

Diese Aussagen im Magazin „Via“ sind ein Beispiel dafür, wie man nicht vereinfachen sollte.

Der Text enthält aber auch sonst eine Reihe fragwürdiger Aussagen.

Beispielsweise:

– „Der Rote Enzian hilft dank seines Bitterstoffs gegen Bauchschmerzen und Krämpfe,…“

Das ist viel zu pauschal. Eine rein symptomorientierte Empfehlung ist hier nicht sinnvoll. Es kommt auf die Ursachen der Bauchschmerzen und Krämpfe an, ob Bitterstoffe wirksam sind – in den meisten Fällen dürfte das nicht der Fall sein.

Bitterstoffe regen die Produktion von Verdauungssäften an und können auch die Darmperistaltik beschleunigen. Sie wirken damit günstig bei Völlegefühl und Verdauungsschwäche, gegen Krämpfe wirken sie normalerweise nicht.

Im übrigen steht der „Rote Enzian“, präziser der Purpur-Enzian (Gentiana purpurea) in vielen Kantonen unter Naturschutz.

Und bei den Enzianen wird die Wurzel verwendet – damit zerstört man die Pflanze. Wenn schon selber gesammelt werden soll: Warum nicht eine Bitterstoffpflanze verwenden, die verbreitet vorkommt und gut nachwächst? Zum Beispiel Schafgarbe?

– „Augentrost….ist einfach ein wunderbares Heilmittel für allerlei Augenleiden,…“

Allerlei Augenleiden – das ist viel zu grenzenlos. Es verleitet dazu, dem Augentrost auch Wirksamkeit zuzutrauen bei Kurzsichtigkeit, Grauen Star, Grünem Star, Makuladegeneration usw.

Es ist aber schwer vorstellbar, dass Augentrost einfach immer gut fürs Auge ist – egal welche Ursache der Augenerkrankung zugrunde liegt.

Traditionell wendet man Augentrost bei leichten Bindehautentzündungen an. Gerbstoffe könnten dabei eine günstige Wirkung gegen Entzündungen erklären. Genauer untersucht worden ist das aber bisher nicht. Ich selber bevorzuge bei Bindehautentzündung Umschläge mit Schwarztee.

Empfehlung:

In den Bereichen Komplementärmedizin / Naturheilkunde / Alternativmedizin begegnet man nicht selten derart vagen Gummiaussagen wie „gegen allerlei Augenleiden“. Das sollte man immer als Warnzeichen nehmen und nachfragen, was damit genau gemeint ist.

Fazit:

Jede und jeder soll seine Meinung äussern und im Internet publizieren dürfen. Soweit klar. Aber es gibt auch eine Verantwortung von Autorinnen und Autoren für ihre Aussagen, insbesondere wenn es um die Behandlung und Heilung von Krankheiten geht. Und diese Verantwortung wird meiner Ansicht nach im Internet, aber auch in Büchern und im Unterricht, allzu oft nicht genügend wahrgenommen.

Wer sich im Internet informieren will, muss daher in der Lage sein, alle Aussagen sehr kritisch zu prüfen.

Siehe auch:

Naturheilkunde – sorgfältig prüfen lernen!

Komplementärmedizin – Qualität und Quacksalberei 

Komplementärmedizin – woran erkennen Sie fragwürdige Aussagen?

Heilpflanzenkurse: Die Checkliste – so prüfen Sie die Qualität 

Quelle:

Die Ausgabe 5 / 2015 von „Via“ findet man als PDF auf der SBB-Website:

http://www.sbb.ch/sbb-konzern/medien/publikationen/via/archiv.html

 

Martin Koradi, Dozent für Phytotherapie / Pflanzenheilkunde

Winterthur / Kanton Zürich / Schweiz

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