„Die Polarisierung der Welt in Gut und Böse entspricht einem manichäischen Weltbild, wie es auch fatalen ideologischen und politischen Fehlentwicklungen – individuellen und kollektiven – zugrunde liegt. Die grossen Katastrophen und Tragödien des letzten Jahrhunderts sind fast alle geprägt von solchem Schwarz-Weiss-Denken: der Kolonialismus, der Antisemitismus und Rassismus, der Nationalsozialismus, der West-Ost-Konflikt, die Spannungen zwischen westlicher und arabischer Welt mit all ihren gewaltigen Begleiterscheinungen.

Die Polarisierung ist angesichts der millionen- und abermillionenfachen Opfer als eine der gravierendsten «Überzeugungskrankheiten» zu bezeichnen. Wäre eine weltweite Entpolarisierungskampagne ebenso möglich wie die Durchführung von Alphabetisierungskampagnen oder Serienimpfungen, dann wäre dies wohl eine der segensreichsten humanitären Aktionen überhaupt.

Die Aufspaltung in nur «Gut» und nur «Böse» – in der psychologischen Terminologie als «Spaltung» bezeichnet – erlaubt die Projektion alles Bösen auf den Gegner und die Introjektion alles Guten in uns. «Ich bin gut, der andere ist schlecht» lautet die Formel. Es gibt keine Ambivalenz. Der Freund-Feind-Schematismus erspart die Trauer über eigene Niederlagen und Verluste.“

Zitat aus: Mario Gmür, „Die Unfähigkeit zu Zweifeln  – Welche Überzeugungen wir haben und wann sie pathologisch werden“,Seite 262;  Klett-Cotta 2006

Mario Gmür ist Psychiater, Psychotherapeut und Psychoanalytiker.

Kommentar & Ergänzung:

Zu den grossen Katastrophen und Tragödien des letzten Jahrhunderts, die im Schwarz-Weiss-Denken gründen, müsste meines Erachtens noch der Stalinismus hinzugefügt werden.

Zunehmende Polarisierung und Spaltung ist aber auch in der gegenwärtigen Politik zu beobachten. Diese Phänomene verlangen Aufmerksamkeit, weil sie die demokratische Kultur massiv beschädigen. Erkennbar sind spalterische und polarisierende Haltungen unter anderem daran, dass politische Gegner nicht als Gegner, sondern als Feinde behandelt werden.

Dazu ein passendes Zitat aus dem Reclam-Bändchen „Zivilisiert streiten“ von Marie-Luisa Frick:

Zum Unterschied zwischen Gegnerschaft und Feindschaft

Das im Zitat von Mario Gmür erwähnte „manischäische Weltbild“ leitet sich ab vom Begriff „Manichäismus“. Damit ist eine in der Spätantike wurzelnde Offenbarungsreligion gemeint, die nach ihrem Gründer benannt ist, dem Perser Mani (216–276/277).

„Manis Lehre ist durch die Unterscheidung von zwei Naturen oder Prinzipien und drei Epochen der Heilsgeschichte gekennzeichnet. Die zwei Naturen sind die des Lichts und die der Finsternis…….

Wegen der Unterscheidung zweier absolut verschiedener und gegensätzlicher Naturen und der ihnen zugeordneten Reiche wird der Manichäismus zu den dualistischen Modellen gezählt….

In der Gegenwart wird der Begriff verwendet, um Ideologien zu kennzeichnen, die die Welt ohne Zwischentöne in Gut und Böse einteilen, wobei sie den Feind zum existenziell bedrohlichen, wesenhaft Bösen stilisieren. Dem liegt zumeist ein eschatologischer Zug zugrunde. Als manichäisch in diesem Sinne werden in den Sozialwissenschaften etwa christlicher Millenarismus, Antisemitismus, der Nationalsozialismus und verschiedene Verschwörungstheorien beschrieben.“

Quelle: Wikipedia

Mein Fazit und meine Empfehlung:

Wir sollten unter keinen Umständen Politikerinnen oder Politiker wählen, die sich mit Polarisierung und Spaltung durchsetzen wollen, egal ob sie nun Trump, Johnson, Bolsonaro, Kickl, Gauland, Höcke, Weidel oder Köppel heissen. Spalter und Polarisierer werden in der Politik (und anderswo) nichts Konstruktives zustande bringen.

Siehe auch:

Selbstprofilierer, Narzissten und Diffamierer schaden der Demokratie

Anmerkungen zur ungesunden Polarisierung in der Politik

Übersicht meiner eigenen gesellschaftspolitischen Texte und Buchempfehlungen.